Beschreibung
Der Yvain-Roman ist nicht nur buchstäblich, sondern auch spirituell zu verstehen: Er erzählt exemplarisch den christlich-heilsgeschichtlichen Werdegang des Ritters Yvain. Diese Deutungsebene erschließt sich, wenn man den Roman vor dem Hintergrund der Werke des Kirchenvaters Augustinus liest, auf die thematische Parallelen und zitathafte Anklänge verweisen. Solche intertextuellen Beziehungen lassen sich textnah aufzeigen, und sie bilden zusammen ein kohärentes gedankliches Gefüge.
Yvains Erkenntnis der eigenen Nacktheit im Moment seiner Heilung erinnert an eine ähnliche Erfahrung Augustins während seiner Bekehrung (Confessiones VIII). Auch das für Yvains Sünde so wichtige Thema der Wahrnehmung der Zeit verweist auf den Kirchenvater: Die psychologische Messung der Zeit ist Gegenstand des XI. Buchs der Confessiones; das Verfehlen des Zeitpunkts („Kairos“) der Rückkehr lässt sich im Sinne der Heilsgeschichte deuten, und die Gliederung der erzählten Zeit mit ihren Peripetien gleicht dem Muster, das Augustinus im Enchiridion erklärt.
Mit dem Vortrag des Calogrenant, der der eigentlichen Yvain-Handlung voraufgeht, wird ein psychologischer Dreischritt eröffnet: Yvain hört begeistert zu und entwickelt Begierden, die schnell zur Tat führen. Hier lässt sich das Schema der Verführung zur Sünde „suggestio – delectatio – consensus“ erkennen, das der Kirchenvater in De trinitate erläutert. – Die drei Begierden Ehrgeiz, Schaulust und Liebesdrang, die den Ritter bis zu seinem Zusammenbruch motivieren, entsprechen der „triplex concupiscentia“, welche Augustinus im Blick auf sein eigenes Leben bespricht (Confessiones X).
Wenn in dem Prolog, der den Vortrag des Calogrenant eröffnet, der Redner in einer lehrhaften Art das Verstehen des Worts über Gehör und Geist erläutert, ist der Bezug des Texts zu dem XI. Buch von Augustins De Trinitate offensichtlich. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die erzähltheoretische Frage nach Wahrheit und Erfindung in der Erzählung, die in den Schlussversen des Prologs anklingt.
Inhalt
Einleitung
I. Yvains Nacktheit
1. Das Problem der Gliederung des Werks
2. Die Romanmitte: Wunderheilung und Tötung der Schlange
3. Nacktheit und „folie“ in der Sicht der Romanfiguren
4. Die Heilungsszene und ihre Elemente
5. Zum mittelalterlichen Verständnis der Nacktheit
6. Analogien bei Chrétien und Augustinus
7. Die Wunderheilung als Moment der Umkehr
8. Der Kampf zwischen Löwe und Schlange:
Yvains Entscheidung für das Gute
9. Zur Spiritualität von Chrétiens Roman
II. Yvains versäumte Rückkehr und die Messung der Zeit
1. Die Gliederung der Yvain-Geschichte im Vergleich mit Augustins Enchiridion
2. Die Harmonie von Zeitpunkt und Handlung als Problem Yvains ante legem und sub gratia
2.1 Das Thema der Zeit im Yvain-Roman: Einführung in das Problem
2.2 Yvains Verfehlen der zeitlichen Ordnung ante legem
2.3 Yvains sinnvolle Nutzung der Zeit sub gratia
3. Yvains Sünde sub lege und die Messung der Zeit
3.1 Yvains dreigestaltige Sünde
3.2 Laudines Messung der Zeit, gedeutet vor dem Hintergrund von Augustins Confessiones XI
4. Augustins Psychologie der Messung der Zeit nach Confessiones XI
5. Die Wahrnehmung der Zeit im Sinne der Heilsgeschichte
6. Yvains Sünde und die Heilung, heilsgeschichtlich betrachtet
6.1 Die Heilung, der erlebte Gnaden-Kairos
6.2 Die Sünde, der versäumte Gnaden-Kairos
6.3 Augustins Erkenntnis des versäumten Kairos im Moment der Conversio (Conf. XII,X,10)
7. Yvains versäumte Rückkehr und die Messung der Zeit –Ergebnis
III. Die Erzählung des Calogrenant und die Weckung der Begierden in Yvain – Die Sinneserfahrung des homo exterior
1. Einleitung
2. Die Wirkung der Erzählung auf Artus
2.1 Vom Hörer zum Augenzeugen aus zweiter Hand
2.2 Vom Hörer zum Täter
2.3 Artus’ Vergehen als Antizipation von Yvains Sünde
3. Die Wirkung der Erzählung auf Yvain
3.1 Yvain als Hörer der Erzählung und die Weckung der Begierden
3.2 Ehrgeiz und Schaulust als Antriebe Yvains
3.3 Die Fleischeslust als Fortsetzung der Schaulust
3.4 Der Dreischritt der Verführung zur Sünde im Denken Augustins
4. Die drei Begierden Yvains vor dem Hintergrund der Lehre Augustins
4.1 Augustins allgemeines Verständnis der Affekte
4.2 Die Trias der Begierden (cupiditas triplex) in Augustins Confessiones und im Yvain-Roman
4.2.1 Der Ehrgeiz (ambitio saeculi)
4.2.2 Die Schaulust (concupiscentia oculorum)
4.2.3 Die Fleischeslust (concupiscentia carnis)
5. Drei Bilder für den homo exterior im Banne der Begierde
5.1 Das Gefängnis
5.2 Die Blindheit
5.3 Die gespaltene Kreatur
6. Yvain als Hörer der Erzählung im Banne der Begierde – Ergebnis
IV. Das Vernehmen des Worts über Gehör und Geist als Thema des Prologs: Hören und Verstehen, Erinnerung und Imagination
1. Die Dreiteilung des Prologs
2. Die Theorie der Wahrnehmung nach Augustinus
3. Psychologie Augustins
3.1 Der Mittelteil (V. 157-168): Das Wort auf seinem Weg vom Gehör in die memoria
3.2 Der Anfangsappell (V. 151-156): Hören und Begreifen und die intentio animi
3.3 Der Schlussappell (V. 169-174): Hören – Erinnerung – Imagination – Wahrheit
3.3.1 Der sich erinnernde Augenzeuge als Bürge der Wahrheit
3.3.2 Der Hörer als Sehender aus zweiter Hand 91
3.3.3 Der Erzähler als Erfinder von Vorstellungen und deren Rezeption durch den Hörer
4. Die Wahrheit der narratio fabulosa
4.2 Der Leser als Suchender
5. Der Beitrag des Prologs zum Verständnis von Yvains Heilsweg
5.1 Yvain als Hörer des Worts
5.2 Yvains Selbsterkenntnis im Moment der Gnade
6. Das Vernehmen des Worts über Gehör und Geist – Ergebnis