Beschreibung
Die Erfindung der Fotografie im Jahr 1839 blieb im kulturellen Feld des 19. Jahrhunderts nicht folgenlos. Selbst das Produkt eines seit 1800 gewachsenen realistischen Verlangens, nahm sie entscheidenden Einfluss auf die realistische Kultur und Literatur der Epoche; verhieß sie doch, die Welt in forcierter Naturtreue und Objektivität abzubilden. Dementsprechend setzt diese Studie, von der spezifischen literarhistorischen und soziokulturellen, aber auch wahrnehmungspsychologischen und anthropologischen Konstellation des 19. Jahrhunderts ausgehend, die Literatur des Realismus wie auch die literarische Debatte um eine realistische Ästhetik in Beziehung zum fotografischen Sehen und zur Fotografie: zu jenem Medium also, das die Quintessenz realistischer Darstellung bedeutete. Darüber wird zugleich eine Facette der bürgerlichen Kultur im 19. Jahrhundert beleuchtet. Einer intermedialen Fragestellung folgend werden die Entwicklungen im Bereich der Ästhetik mit Blick auf den Wandel der Äisthesis beschrieben, vor allem auf jene Visualisierungs- und Optisierungstendenzen, die die Sehkultur dieses Jahrhunderts maßgeblich verändert haben. Literaturgeschichte kann so als Sehgeschichte reflektiert, die strukturellen Analogien zwischen beiden Medien sowie die Referenzen der realistischen Literatur auf die Fotografie nachgezeichnet werden. Dabei finden die Selbstaussagen der Autoren Berücksichtigung, zugleich aber gilt es, die subkutanen Strategien der Annäherung an das neue Medium herauszuarbeiten. Weiterhin lassen sich über eine solche medien- und kulturgeschichtliche Perspektivierung die Spezifika des deutschsprachigen Realismus beleuchten. Denn zum einen werden in ihm die fotografischen Eigenschaften des Erinnerns, Archivierens und Sammelns in Literatur simuliert; zum andern nimmt man über den Detailrealismus, über die realistische Praxis der detaillierten Dingbeschreibung also, fotografische Prinzipien in Literatur auf. Auch die realistischen Techniken des fokussierenden Blicks, des rahmenden Sehens, der ausschnitthaften Beschreibung und novellistischen Rahmenkonstruktion des Erzählten sind als literarische Entsprechungen der fotografischen Wahrnehmung und Abbildungstechnik zu diskutieren.
Autorenportrait
Sabina Becker, geb. 1961, ist Professorin für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br. Sie promovierte 1992 mit einer Arbeit zur Großstadtliteratur der Moderne an der Universität des Saarlandes, 1999 Habilitation zur Ästhetik und Literaturtheorie der Neuen Sachlichkeit. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und des 20. Jahrhunderts, seit Juni 2011 Präsidentin der Internationale Alfred Döblin-Gesellschaft (IADG).