Beschreibung
Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Forschungsprojekts Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, das im Jahr 2007 seine Arbeit begonnen hat, in Kooperation mit dem Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. Es handelt sich um die erweiterte und für den Druck überarbeitete Habilitationsschrift des Autors, die im Mai 2018 eingereicht wurde. Da die Druckausgabe im Vergleich zur Habilitationsschrift zeitlich etwas verzögert erscheint, konnten neue Aspekte einfließen, so dass diese Publikation etwas umfangreicher als die ursprüngliche Habilitationsschrift ist. Das 19. Jahrhundert kann als revolutionär in Hinblick auf die Entwicklung der Naturwissenschaften gesehen werden. Im Bereich der Medizin bildeten sich mit dem raschen Hinzugewinn an Kenntnissen Subspezialisierungen heraus, die die heutige Einteilung der Disziplinen vorbereiteten. Während die Geschichte der Geistes- und Nervenkrankheiten Westeuropas im 19. Jahrhundert inzwischen als gut aufgearbeitet gelten kann, blieben international ausgerichtete medizinhistorische Publikationen über Russland eher die Ausnahme. Vor diesem Hintergrund soll die vorliegende Arbeit untersuchen, inwieweit sich der Wissenschaftsaustausch auf dem Gebiet der Nervenheilkunde im Spannungsfeld zweier Nationen bzw. zweier Kulturen entwickelte. Kulturelle Kontakte zwischen dem Deutschen Reich bzw. den damaligen deutschen Staaten und dem Russischen Reich standen im 18. und 19. Jahrhundert in voller Blüte. In vielen Bereichen waren Deutsche in russischen Diensten tätig - auf militärischem Gebiet, in der Administration, in der medizinischen und pharmazeutischen Versorgung, an Bildungseinrichtungen, in wissenschaftlichen Institutionen und im Handel. Hinzu kam, dass in den zu Russland gehörigen, als Ostseegouvernements bezeichneten baltischen Provinzen, den heutigen Ländern Estland, Lettland und Litauen, viele Menschen mit deutschen Wurzeln ansässig waren und die dortige Oberschicht bildeten. Die deutsche Sprache spielte aber nicht nur dort, sondern im gesamten für den Handel wichtigen Ostseeraum eine bedeutende Rolle. Aber wäre daraus abzuleiten, dass der Transfer von Wissen nur in eine Richtung ging, von West nach Ost? Gab es Impulse in umgekehrter Richtung? Auch solchen Fragen soll die vorliegende Untersuchung nachgehen. Die Arbeit gliedert sich inhaltlich in mehrere Teile. Zunächst wird, um das generelle Verständnis des geschichtlichen Hintergrunds zu erleichtern, auf den Stand der Forschung Bezug genommen und ein Überblick zur Geschichte Russlands mit Schwerpunkt auf dem Bildungsbereich gegeben, weil bestimmte Eigenheiten der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen durch die Politik nachhaltig geprägt wurden. Im Folgenden werden dann die Ergebnisse des Studiums der Originalquellen ausgewertet und Besonderheiten hervorgehoben. Es handelt sich um ein neues Forschungsfeld, auf dem weder von deutscher noch von russischer Seite detaillierte Vorarbeiten vorliegen. Es werden Basisinformationen bereitgestellt, auf die dann die weitere Forschung aufbauen und Bezug nehmen kann. Der Verfasser unterstreicht ausdrücklich das im Vorstellungstext des Akademieprojekts formulierte Anliegen: "Historische Fundierung und Dekonstruktion nationaler Legendenbildung können sogar zu einer Förderung der aktuellen Wissenschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russlandbeitragen."