Beschreibung
In der gegenwärtigen Forschung zur Essstörung Anorexia nervosa dominieren human- und sozialwissenschaftliche Perspektiven, die sich auf körperliche und psychische Symptome konzentrieren. Mit Hilfe der Leibphänomenologie, die nach dem eigenleiblichen Erleben der Betroffenen fragt, eröffnet Marcinski eine neue Sicht auf die Anorexie. Anhand von Schilderungen Betroffener in autobiographischen Texten rekonstruiert die Autorin das Erleben der 'Hungerkranken' und weist daran nach, dass das leibliche Spüren grundlegend für die Etablierung und Aufrechterhaltung der Symptomatik ist. Sie versteht die Anorexie als Versuch, durch kulturelle Techniken in das Erleben einzugreifen und es zu gestalten. Das führt zu der zentralen These, dass die Betroffenen mittels körperdisziplinierender Praktiken die Erfahrung von Hunger forcieren. In Hunger, Ekel, Schmerz und ständigem Frieren erfahren sie eine spürbare Selbstgewissheit. Mit dieser Umkehrung der Perspektive auf das Erleben stellt die Untersuchung die diagnostische Annahme einer Körperbildstörung in Frage. Die Anorexie ist gerade nicht, wie die bisherige Forschung annimmt, durch Vergeistigung und Entkörperung, sondern vielmehr durch eine besondere Intensität des leiblichen Spürens geprägt.