Beschreibung
Ein neues Leben für die Erzählungen von Egnate Ninoschwili
Der Name Egnate Ninoschwili (1859-1894) ruft auch im heutigen Georgien widersprüchliche Assoziationen hervor. Dieser Zwiespalt hängt nicht so sehr von seinen literarischen Texten ab, als von dem Kontext, in dem er und seine Texte leben mussten. Dieser änderte sich mehrmals je nach geschichtlicher, politischer oder kultureller Lage Georgiens.
Egnate Ninoschwili zählt zu den Autoren, deren Positionierung je nach kulturellem und politischem Kontext unterschiedlich verlief. Dementsprechend änderte sich nicht nur Ninoschwilis offizieller kultureller Status radikal, sondern auch die Beziehung des Lesers zum Autor.
Solange er lebte und auch später in den 1910er-Jahren galt er als der Meister überzeugender realistischer Bilder, wurde aber nicht zu einer bedeutenden Figur der georgischen Literatur.
Ende der 1910er-Jahre kam in Georgien eine gewaltige Welle der Moderne ins Rollen, die sich ihre europäischen Vertreter zum Vorbild nahm.
1918, gleich nach dem Zerfall des Russischen Imperiums, gründeten die Georgier einen souveränen Staat, die Demokratische Republik Georgiens, ganz nach dem europäischen Muster. Europäische politische Ideen: Demokratie, Republikanismus, Gleichberechtigung und Vielparteiensystem spielten bei diesem Prozess eine sehr große Rolle.
Die Moderne wurde auch in Georgien sehr schnell zu einem vorherrschenden kulturellen Stil. Georgische Vertreter der Moderne sprachen in der georgischen Literaturkritik dem Erzählstil von Ninoschwili und seinem Einfluss auf den Leser eine positive Bedeutung zu. Grigol Robakidse (1882-1929) verglich sein Wort mit „Essig und Säure“.
Das Bolschewistische Regime stellte Ninoschwilis Erzählungen gleich nach der Machtübernahme in Georgien (Februar, 1921) an die Spitze des georgischen Kanons und tauschte den Autor gewaltsam gegen die Vertreter der georgischen Moderne aus, gegen diejenigen, die der vorangehenden Generation angehörten und bedeutende Autoren des Realismus waren: ganz besonders gegen Ilia Tschawtschawadse (1837-1907).
Ninoschwili erwies sich in der georgischen Literatur als geeignetster Autor für die Ziele der bolschewistischen kulturellen Revolution. Ein wichtiger Faktor war außerdem, dass Philipe Macharadse, ein georgischer Bolschewist und einer der Hauptakteure bei der russisch-sowjetischen Okkupation, der in den 1920er-Jahren die kulturelle Landschaft in Georgien überwachte, ausgerechnet aus dem Heimatort von Ninoschwili, aus Ozurgeti, aus der Region Guria, stammte.
Hiermit begann Egnate Ninoschwilis aggressive Bekanntmachung. Anstelle der bedeutenden georgischen Autoren wurde er zu einem führenden erklärt. Schriftsteller und Kritiker aus dem Proletariat boten der georgischen Gesellschaft folgende dichotome Slogans an: „Ihr habt Ilia! Wir Egnate!“
In den 1930er-Jahren entwickelte die stalinistisch-totalitäre Kulturpolitik andere Mittel, um den sozialen Raum in die gewünschte Richtung zu lenken: dies beinhaltete nicht nur die Aneignung jener Autoren, die für die nationalen Ideale standen, in erster Linie Ilia Tschawtschawadse, sondern auch ihr Einwickeln in die sowjetische Hülle. 1932 gaben die georgischen Bolschewisten der Organisation, dem Schriftstellerverband Georgiens, der über den literarischen Raum wachen sollte, den Namen Egnate Ninoschwilis. Stalin schränkte aber sehr bald den Einfluss Philipe Macharadses ein und auch den Gebrauch des Namens von Egnate Ninoschwili. Als Schriftsteller besaß Ninoschwili den nationalen Einfluss nicht in dem Maße, mit dem er dem stalinistischen kulturellen Zwecken hätte gerecht werden können. Seine Werke durften jedoch weiterhin dem literarischen Kanon angehören. Also blieb er dort auch in der poststalinistischen Zeit, von den 1960er-Jahren bis hin zum Zerfall der Sowjetunion.
Die ländliche Welt seiner bescheidenen und hoffnungslosen Erzählungen war neben dem modernen Georgien und neben den Werken der georgischen Autoren wenig beeindruckend. Seine Texte sprachen nicht die wesentlichen Fragen der damaligen Zeit an: die nationale und persönliche Souveränität und die Bündnismöglichkeit mit der freien (westlichen) Welt. Einige Erzählungen Ninoschwilis blieben noch immer Pflichtlektüre in der Schule. Diese wurden aber immer als vom Regime aufgezwungene Werke empfunden. Das erschwerte ihre realistische Wahrnehmung sehr. Seit den 1990er-Jahren, also in der postsowjetischen Periode, sofort nach der Aufhebung der sowjetischen Norm, verschwanden diese Werke sowohl aus dem Schulkanon als auch aus dem Schulcurriculum.
Erst in den letzten Jahren erlangte Ninoschwili wieder die Aufmerksamkeit in den neuen Kreisen mit der westlich linken Anschauung. Die literarische Kraft und der Expressionismus der realistischen Werke Ninoschwilis spielte und spielt auch heute keine besonders bedeutende Rolle.
Egnate Ninoschwilis Namen verfolgt auch heute jene ideologische Schleife, die er während der Sowjetzeit bekam: durch die Manipulation biographischer Fakten bekam die georgische Gesellschaft einen Schriftsteller präsentiert, der abgeschieden und verarmt lebte, aber im Marxismus die befreiende Kraft sah und als Vorbote der bolschewistischen Revolution dienen sollte.
Das Leben und Wirken des Schriftstellers lieferte dazu ausreichend Gründe: er schrieb über soziale Probleme, über das Leben der Bauern und vor allem gehörte er zu dem kleinen Kreis der Autoren, der aus der niedrigen sozialen Schicht in die Literaturwelt aufgestiegen war. Er war in der Familie eines verarmten Bauern geboren, lebte in ärmlichen Verhältnissen, arbeitete als Dorflehrer und auch als Bauarbeiter; unter allen damaligen Schriftstellern war ausgerechnet er derjenige, der eine große Rolle bei der Verbreitung des Marxismus und der Sozialdemokratie spielte; der wesentliche und willkommene Faktor war nach russischen Bolschewisten und ihren georgischen Korrelaten dabei, dass Ninoschwilis bekannteste Texte niemals die nationalen Fragen ansprachen. Im Georgien des 19. Jahrhunderts, das zu einem Teil des russischen Imperiums geworden war, waren eben diese Fragen die wichtigsten in der Literatur.
Um die Beziehung zwischen Ninischwilis Texten und seiner Biographie mit der damaligen, zeitgenössischen Gesellschaft zu verstehen, wäre es sehr wichtig, die georgische Realität und die allgemeine Stimmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu berücksichti-
gen.
Georgiens Kolonialisierung durch Russland begann 1801: das Königreich von Kartl-Kachetien wurde annektiert und in das russische Imperium eingegliedert. Die jahrhundertlange königliche Dynastie der Bagratiden und die Autokephalie der georgischen orthodoxen Kirche wurden aufgehoben. In der damaligen georgischen Poesie wurde diese Kolonialisierung als ein großes nationales Trauma empfunden. Der Verlust der nationalen Souveränität und die Hoffnung auf ihre Wiederherstellung waren die wichtigsten Themen in der damaligen Literatur und Gesellschaft. Nebenbei vollzog sich die Anpassung an den russischen Verwaltungsapparat.
Die georgische Poesie verinnerlichte am Anfang des 19. Jahrhunderts die Ästhetik und die Ideale der europäischen Romantik. Eine Gesellschaft nach moderner Art bildete sich heraus. Nationale Widerstandskämpfe fanden statt; Anfang der 1930er-Jahre keimten Wünsche nach der Wiederherstellung eines souveränen Staates und der Erschaffung einer Republik nach europäischem Vorbild auf. Diese kulturellen und nationalen Anstrengungen verließen jedoch nicht die elitären und adeligen Kreise Georgiens.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden diese Tendenzen noch demokratischer. Eine breite Masse der Gesellschaft machte bei den Prozessen der Europäisierung, Modernisierung und nationalen Identifizierung mit. Die Generation der 1860er-Jahre, die so genannte „Generation der Sechziger“, setzte sich unter der Leitung von Ilia Tschawtschawadse zum Ziel, die Georgier national zu vereinigen, ihre nationale Identität herauszubilden, innerhalb der Grenzen des russischen Imperiums eine imaginäre Grenze Georgiens zu ziehen. Dementsprechend existierte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in der georgischen Gesellschaft ein quasi unabhängiger Raum. Der russische Verwaltungsapparat wurde als administrative Realität wahrgenommen, neben der den Georgiern ihre nationalen Ziele erlaubt sein sollten: die Erschaffung einer starken westlich orientierten Gesellschaft und die Vorbereitungen für die Gründung eines souveränen Staates.
Die Prozesse, die von der Generation der Sechziger, unter ihnen Ilia Tschawtschawadse, angestoßen wurden, nahmen in den nächsten Jahrzehnten deutlich an Kraft zu, es entstanden georgische Druckerzeugnisse und bedeutende Texte der georgischen Literatur; das georgische Theater wurde sehr populär; durch die Arbeit der Gesellschaft für die Verbreitung der Lese- und Schreibkenntnisse gab es nun auch in den untersten Schichten Lese- und Schreibkundige; die Bildung bekam Priorität; durch private Initiativen entstanden Grund- und weiterbildende Schulen; für einen Hochschulabschluss reiste man nicht mehr nach Russland, sondern nach Europa. Das waren nicht nur Adelige, sondern auch solche jungen Leute, die wie Ninoschwili nicht aus wohlhabenden Familien stammten; die ersten politischen Ideen fanden ihren Einzug.
Egnate Ninischwili betrat so eine literarische Arena. Er war Teil dieser Prozesse. Die sowjetische Literaturkritik versuchte tendenziell jene Stereotypen zu etablieren, in deren Leben es nur zwei Welten gab: ein Dorf in Guria, das in Armut versank und die Hoffnung, dieser Armut zu entkommen. Also die Entsprechung für eine neu entstandene marxistische Bewegung.
Hinter dieser konstruierten Biographie war Ninoschwili noch als Publizist und Schriftsteller zu sehen. Seit Ende der 1880er-Jahre veröffentlichte er Artikel und Feuilletons in der Zeitschrift „Iweria“, deren Gründer und Herausgeber Ilia Tschawtschawadse war. Er arbeitete bei den georgischen Zeitschriften und Zeitungen: „Moambe“, „Theater“, „Kwali“ usw. Er studierte in Frankreich, in Montpellier (1886-1887), lernte Deutsch, arbeitete als Dorflehrer, als Sekretär des Herzogs von Guria, scheute sich nicht vor körperlicher Arbeit in der Landwirtschaft. Alle diese Beschäftigungen waren für Egnate Ninoschwili die Mittel, um seine Schriftstellertätigkeit zu verwirklichen.
Egnate Ninoschwilis Beziehung zu der neu entstandenen marxistischen Bewegung war eine andere Frage. In den 1880er-Jahren lernten die Georgier die europäischen Ideen unmittelbar in Europa kennen und nahmen diese als Perspektiven für die russische Entkolonialisierung wahr. Das war die Fortführung der Position Ilia Tschawtschawadses und seiner Mitstreiter, nach der die georgische Gesellschaft die soziale Kultur der europäischen Gesellschaft adaptieren, sich als eine bürgerliche Gesellschaft etablieren und sich für die Befreiung von der russischen Herrschaft bereit machen sollte.
Zu dieser Zeit verbreiteten sich revolutionäre, antimonarchische politische Tendenzen aus Russland, die in Wahrheit nur die Reorganisation Georgiens beabsichtigten und nicht seine Zerstörung. Die Verbreitung des Marxismus geschah in Georgien auf der Grundlage dieser zwei Tendenzen. Ende des 19. Jahrhunderts existierte hier eine radikale marxistische Gruppe, die sich um die russischen Marxisten versammelte, die aus dem russischen Zentrum im Kaukasus untergetaucht waren. Unter ihnen befand sich auch der junge Stalin.
„Die Dritte Gruppe“ wurde zu einer legalen Organisation, die die Ansichten der Marxisten teilte. Sie wurde in den 1892-1893er-Jahren in Georgien zu der ersten politischen Organisation. Genau an ihrer Spitze war Egnate Ninischwili zu sehen. Zusammen mit seinen Gleichgesinnten und Freunden gehörte er 1892 zu der Initiativgruppe. Neben ihm war dort Noe Schordania, der Regierungschef des zukünftig unabhängigen Georgiens (1918-1921), der 1893 das Handlungsprogramm für „Die Dritte Partei“ erstellte. In diesem Programm standen wirtschaftliche, nationale und persönliche Ziele und auf dem europäischen Boden die „Europäisierung“ aller Georgier im Vordergrund. Die Bekanntmachung des Programms der „Dritten Gruppe“ fand am 12. Mai 1894 bei der Beerdigung Egnate Ninoschwilis, der mit 35 Jahren an Tuberkulose verstarb, in seinem Heimatdorf Tschantscheti statt. Obwohl die „Dritte Gruppe“ eine Organisation war, die durch marxistische Ideen inspiriert worden war (10 Jahre nach der Gründung wird sie in den Kaukasischen Verbund der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beitreten), entwickelte sie sich in Wirklichkeit zu der menschewistischen Kraft, die später an der Spitze des unabhängigen Georgiens stehen wird, und nicht zu einer bolschewistischen Macht, die durch die Annektierung Georgiens an die Herrschaft gekommen war (die dann die menschewistische Regierung Georgiens stürzte). Die Menschewiken und die Bolschewiken, dieser zwei Fraktionen einer sozialdemokratischen Partei, verband weder in Russland noch in Georgien ihre Gleichgesinnung oder ihre Zusammenarbeit miteinander. Nach der Sowjetisierung Georgiens ging die menschewistische Regierung ins französische Exil. Alle, die mit den Menschewiken zu tun hatten und geblieben waren, fielen in Georgien den anschließenden sowjetischen Repressalien zum Opfer.
Egnate Ninoschwili wurde zum Vorreiter der bolschewistischen Bewegung und des sowjetischen Georgiens erklärt. Das war ein weiteres Beispiel, wie das Regime die Geschichte und Kultur beeinflusste, um einer sowjetischen Literatur in Georgien das Leben einzuhauchen. Mit der Aneignung dieser Figur nahm die sowjetische Ideologie dem georgischen Leser die Möglichkeit der wahren, objektiven Wahrnehmung der Werke dieses Schriftstellers.
Egnate Ninoschwili schrieb seine Werke in den letzten sieben Jahren seines Lebens. Sie wurden in den Druckmedien sowohl während seines Lebens als auch nach seinem Tod veröffentlicht. Das wies auf die Bedeutung seiner Texte unter den Lesern hin; noch bevor sich das sowjetische System seine Werke aneignete und mit seiner erzwungenen Bekanntmachung begann.
Ninoschwilis Werke enthalten den Roman „Aufstand in Guria“, und um die zehn längere Erzählungen, deren Protagonisten für den georgischen Leser sehr bekannt sind. Sie hinterlassen einen bleibenden Eindruck und erwecken Mitgefühl. Sowohl der Roman als auch einige seiner Erzählungen wurden schon in den 1920-1930er-Jahren in Georgien verfilmt. Der erste georgische Kinofilm „Christine“ wurde nach dem gleichnamigen Roman Egnate Ninoschwilis in den 1916-1918er-Jahren gedreht. Der Produzent war Germane Gogotadse und der Regisseur Aleksandre Tsutsunawa. Christines Gesicht, eine Bauernfrau, die von einem Adeligen vergewaltigt wird, die wegen des sozialen Drucks aus dem Heimatdorf fliehen muss und in Tiflis zu einer Prostituierten wird, bewegte nicht nur den georgischen Leser sehr, sondern auch allgemein die Kunst. Der Maler Lado Gudiaschwili erschuf eine moderne Interpretation Christines: „Am Stadtrand (Christine)“ (1917-1919). Das Gemälde ist heute in der Dimitri-Schewardnadse-Nationalgalerie ausgestellt.
Solche Probleme, wie: die Schutzlosigkeit einer Frau gegenüber sozialen Vorurteilen, das Elternhaus, als der Raum ihres Gehorsams und der Kultivierung gegenüber den sozialen Klischees, der Kontrast zwischen Stadt und Land, das Ignorieren der Identität des Einzelnen von der urbanen Welt, die Objektivierung der Frau, machen Ninoschwilis Erzählung unglaublich emotional und regen den Leser zum Nachdenken an. So wurde er im modernen Georgien wahrgenommen und wirkt auch heute spannend und zeitgenössisch. In der Sowjetzeit wurde dieser Text keineswegs hochgeschätzt. Damals waren für die Ideologie überwiegend solche Erzählungen von Bedeutung, die das Schicksal eines verzweifelten und unglücklichen Bauern darstellten.
Die sowjetischen Kritiker mussten eigens die Position zum bäuerlichen Leben erschaffen. Zwar war die Arbeiterklasse die treibende Kraft des Bolschewismus, aber da in Ninoschwilis Erzählungen das qualvolle Leben der untersten Schicht der Bauernschaft geschildert wurde, diente auch dieses gut, um dadurch die Kritik am Zarentum zu verstärken und die Notwendigkeit der bolschewistischen Revolution in den Vordergrund zu stellen. In Wirklichkeit war die Kritik des Zarentums nie das Thema von Ninoschwilis Erzählungen. Das entsprach aber jener Dimension, in der die sowjetische Literaturkritik jeden beliebigen vorrevolutionären Text präsentieren konnte. Das war der Blick auf den historischen Fortschritt, auf die sowjetische, historische Dialektik: Bei der Beschreibung der Vergangenheit war es möglich, sogar den russischen Aggressor im negativen Licht zu zeigen, aber nur unter dem Vorbehalt, dass er zum zaristischen Regime gehörte und nach der bolschewistischen Revolution ausgerottet sein würde. In der georgischen Literatur, und auch bei Egnate Ninoschwili, war die reale Wahrnehmung der Probleme weder mit dem Zarentum noch mit der russischen Kolonialisierung verbunden. In der Erzählung Ninoschwilis, „Gogia Uischwili“ (1889) wird dieses als gegeben vorausgesetzt, keiner kann sich dagegen wehren und keiner kann es ändern: „Die ganze Welt wird geknechtet und ins Verderben getrieben“.
Ende der 1880er- und Anfang der 1890er-Jahre, in denen Ninoschwilis Erzählungen geschrieben wurden, war das russische Imperium und sein georgischer Teil, die Gouvernements von Tiflis und Kutaisi und der Bezirk von Batumi, jene Regionen, die nach wirtschaftlichem und kulturellem Fortschritt strebten.
Nachdem in Russland die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, begann in den 1864er-Jahren auch hier die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft. Natürlich gab es noch die Schicht der verarmten Bauern und Adeligen (Ninoschwili war ihr Verteidiger), aber die Aufmerksamkeit der georgischen Gesellschaft galt nicht ausschließlich diesen bäuerlichen Problemen. Im Gegenteil: die georgischen Druckmedien und auch die georgische Literatur unterhielt sich mit dem Leser über die nationale Konsolidierung, über die kulturelle Kommunikation mit Europa und über die Zukunftsziele der Georgier. Über die Frage der Bauern hatten sich die georgischen Schriftsteller nicht nur Gedanken gemacht, sondern mit ihren Problemen auch tatsächlich beschäftigt: Ilia Tschawtschawadse war erst der Vermittler in den ersten Jahrzehnten der Bauernreform und später auch der Schiedsrichter. Diese Problematik beschrieb er auch in seinen Prosawerken. In den 1870-1880er-Jahren beschäftigte sich damit eine kleine Gruppe der Schriftsteller, die „georgischen Volksvertreter“. In der georgischen Presse werden Artikel über das Landleben veröffentlicht, aber weder damals noch in den 1890er-Jahren stand dieses Thema im Mittelpunkt des georgischen gesellschaftlichen Diskurses. Damals entsprach das eher dem Diskurs der Moderne, der sich an nationalem Fortschritt, Modernisierung und Europäisierung orientierte. Tiflis wurde zum Zentrum der gesamten kaukasischen Verwaltung, Kultur und Wirtschaft.
In Westgeorgien entwickelten sich neben der Hauptstadt des Gouvernements Kutaisi auch die Hafenstädte Batumi und Poti weiter. Sie waren Transitstädte für die westliche Wirtschaft und für das Mineralöl aus Baku. Die Dörfer von Guria lagen in unmittelbarer Nähe. Nichtsdestotrotz waren die Dörfer, in denen Ninoschwili seinen literarischen Schauplatz schuf, irgendwie isoliert, nicht nur von der ganzen restlichen Welt, sondern auch von den georgischen Städten und dem sozialen Raum. In der Erzählung „Der See von Paliastomi“ (1891) wird Poti zwar als eine Stadt, in der die Gurier Handel treiben und Geschäfte machen, erwähnt, wird aber gleich gesagt, dass der Eintritt dorthin und der Transportweg dorthin für sie sehr gefährlich ist, eben wegen dieses „schrecklichen“ Sees.
Das geographische Hindernis des Sees wird in Ninoschwilis Erzählung zu einem symbolischen Hindernis, das die Isolation und die Abgeschiedenheit der Dorfbewohner in Gurien verursacht. Deshalb nimmt der Bauer, der beim Schriftsteller verallgemeinernd für alle seine Protagonisten steht, die Welt, die außerhalb seines Dorfes liegt, fast gar nicht wahr. Seine ganze Erwartung von der Welt ist, dass seine kleine Familie das Recht auf das Leben, die Existenz und den Lebensunterhalt hat. Bemerkenswert ist auch, dass diese Grundbedürfnisse auch das Recht auf die Liebe und das Recht auf den Erhalt der Menschenwürde beinhalten.
Gogia Uischwili, einer der bekanntesten Helden in Egnate Ninoschwilis Erzählungen, verzichtet auf das Leben, nachdem eben diese Menschenwürde verletzt wird. Ein Bauer, der keine harte Arbeit scheut, um seine Familie zu ernähren, begegnet einer Welt so, wie sie auch tatsächlich existiert: mit seiner Armut, einem Stückchen Land, mit wenig Ernte, die durch harte Arbeit erzielt wird, mit überhöhten Abgaben und Strafmaßnamen durch die russische imperialistische Armee (Exekution). Dieser Bauer glaubt fest daran, dass er und seine Familie das Anrecht auf das Neujahrsfest und auf die damit verbundene Freude haben. Er hat das Recht auf eine Feier. Dies beinhaltet die Vorbereitung von besonderen Gerichten, die feierliche Stimmung, die spielenden Kinder. Wahrscheinlich ist das für Gogia die einzige Brücke, die ihn mit der Tradition verbindet, sich als ein Individuum fühlen und ihn sein menschliches Dasein empfinden lässt.
Für Gogia und seine Frau Marine heißt es zugleich das Recht auf eine bessere Zukunft. Dieses „süße Leben“ und der morgige Tag sind in ihren Vorstellungen etwas fröhlicher und satter als der heutige. Diese Erneuerung kann in der gegebenen geschlossenen Welt entstehen, in der Fortsetzung des gegebenen einfachen Lebens. Dabei macht es nichts aus, dass sie das Leben Gogia Uischwilis, seiner Frau und ihrer fünf Kinder nicht wesentlich verändern würde: die Hoffnung auf ein besseres Leben wird beim Empfinden der Feierlichkeiten geboren, d.h. das Recht auf eine Feier gleicht damit dem Recht auf Menschenwürde. Das Verletzen dieses Rechts ist hiermit das Verletzen der Menschenwürde. Nachdem sich die Straf-
einheit der russischen Armee im Dorf niederlässt, um die Dorfbewohner zu kontrollieren und sie gegebenenfalls zu bestrafen, da sie einem Gesetzlosen Obdach gewähren, ist Gogia bereit, noch zusätzlich zu arbeiten und die Gebühr der Exekution zu zahlen. Da er diese Abgaben doch nicht leisten kann, wird ihm der Lebensmittelvorrat, der für die Feiertage bestimmt war, weggenommen. Weil er Widerstand leistet, wird er dem Verwalter vorgeführt. Er wird ausgepeitscht. Gogia denkt nun, dass seine Lebenskraft aufgebraucht ist. Die Grenze des freudlosen Daseins, worüber er sich vor seinem Tod beschwert, stellt für ihn das Verletzten seiner Würde und das Auspeitschen dar. Er begeht den Selbstmord sehr bewusst, nachdem er die ganze Nacht darüber nachgedacht hatte, und mit der Erkenntnis der Schuld: da er es nicht mehr ertragen kann, nicht mehr hinnehmen kann, beschließt er zu fliehen. Er ist ein Verräter. In seinem Monolog vor dem unmittelbaren Tod, so wie in den meisten Höhepunkten in Ninoschwilis Erzählungen, erreicht die Tragik jene Qualität, jene Kraft an emotionalen Impulsen, die den Erzählungen die Überlebenskraft verleihen.
In den Erzählungen Ninoschwilis sind die Klarheit und die Zielstrebigkeit der Erzählaufgabe so gegeben, dass der Autor den Leser dorthin auf dem direkten Weg und ohne Umschweife bringt. Den Höhepunkt der Erzählungen stellt jedes Mal der Tod dar. Das, was nach diesem Höhepunkt übrig bleibt, ist: die Verwüstung. Bei allen Werken ist das Ende tragisch. Die Erzählung „Der See von Paliastomi“ (1891) wird mit der Absicht geschrieben, um den Untergang zweier Helden darzustellen. Das ist die einzige Handlung, die in diesem Text erzählt wird. Im Unterschied zu anderen Texten Ninoschwilis wird hier dem historischen und sozial-ökonomischen Kontext soviel Aufmerksamkeit gewidmet, dass dieser Ausschnitt für einen gewissen publizistischen Essay gehalten werden könnte; erst danach ist der Schriftsteller mit der Beschreibung des tödlichen Weges seiner Helden beschäftigt. Die Geschichte des berühmten Holzfällers Iwane und seines Sohnes Niko ist sehr tragisch: obwohl sie fleißig und ehrlich arbeiten, können sie dem Schicksalsschlag nicht entkommen; während des Transports der gefällten Bäume lauert der Tod im See von Paliastomi auf sie. Das Leben sowohl des Vaters als auch des Sohnes, ihre Hoffnungen, ihre Leichen gehen in diesem Wasser unter. Die Beschreibung des Todes dient dem Ziel des Erzählens, so erschafft ein realistischer Schriftsteller die Poetik des Todes.
In vielen Erzählungen folgt dem Tod des Helden auch der Tod der Familienangehörigen und die Verwüstung von deren Hab und Gut. So ist es auch in der Erzählung „Gogia Uischwili“; obwohl hier im Epilog die Hoffnung aufkeimt, als der Sohn nach Jahren beginnt, das Elternhaus wieder aufzubauen (gefolgt von nicht so hoffnungsvollem Kommentar des Autors).
In einer Erzählung, die einige Jahre später geschrieben wurde, wird alles so zerstört, dass nur noch eins übrig bleibt: die Verwüstung. Der Held der gleichnamigen Erzählung (1892), seine Familie und sein Gehöft sind so heruntergekommen, dass es am Ende weder Überlebende noch Hoffnung gibt. Genau das bedeutet das georgische Wort für „Verwüstung“.
Die materielle Armut, die den bäuerlichen Hintergrund voraussetzt, ist mit der Bitterkeit seiner Darstellung verbunden. Die Bitterkeit wird durch den Gehorsam gegenüber jenen sozialen Vorurteilen verursacht, die in der mikrosozialen Welt des Dorfes beheimatet sind. Wenn Egnate Ninoschwili uns einen seiner Helden vorstellt, fügt er immer einen Kommentar hinzu, wie diese Person von der Dorfgemeinschaft und von jedem Einzelnen wahrgenommen wird. Dieses literarische Mittel ist nicht nur von der Seite der Erzählperspektive interessant, sondern zeigt auch die Bedeutung der Ansichten des Einzelnen in jener Welt, die der Autor beschreibt. Die Protagonisten handeln und entscheiden oft, um der Kritik dieser Gemeinschaft zu entgehen. So ist es auch in „Die Verwüstung“ und in „Christine“. Natürlich ist die Anständigkeit einer Frau in dieser Gemeinschaft eines der standhaften Modelle. Seine Verteidigung hat die Aufopferung des Individuums als Preis. Die Helden akzeptieren die sozialen Vorurteile ohne Kritik und ohne Widerstand. Auf diese Weise zeigt uns der Schriftsteller seine kritische Position gegenüber diesen Stereotypen.
Die Wahrnehmung der Welt bei den Bauern von Egnate Ninoschwili kennt nicht die moderne Welt, die rationale Sichtweise, das Wissen, den Fortschritt, die urbane Welt (selbst Christine, eine der wenigen Ausnahmen der Helden, die sich in Tiflis niederlässt, kann bei ihren Ansichten die Grenzen ihres Dorfes nicht verlassen).
Ninoschwilis Bauer ist kein Kind der modernen Zeit, als könnte er nicht weitsichtig genug sein, vielleicht, weil seine Wahrnehmung so einfach und primitiv ist. Selten entsteht eine Frage gegenüber der Welt, und wenn doch, dann blitzen diese Fragen sehr schwach auf, und der Held weiß schon von vorherein, dass er keine Antworten bekommen wird; die Welt der Erkenntnis oder des Glaubens öffnet sich nicht für ihn, und er sieht diese nicht einmal; seine Wünsche und Bedürfnisse gegenüber dem Leben sind so spärlich, wie die vorherbestimmte Wirklichkeit, die ihm das Leben bietet; er verlangt gehorsam und genügsam von der Welt das Recht, in diesem geschlossenen Raum zu existieren. Die Werke Egante Ninoschwilis erzählen uns genau von jener Verantwortung, die in einer Gesellschaft auch gerade für diese rechtsbedürftigen Menschen existieren sollte.
Wieso wählte der Schriftsteller diesen Weg, wieso ließ er viele aktuellere Themen unbeachtet, wieso setzte er sich zum Ziel, jene Stimme der Bauern zu werden, die, zu seinem Lebzeiten, in seiner Heimat, in seinem Dorf, keine Stimme hatten? Zur Metapher eines stimmlosen und stummen Menschen wird bei Egnate Ninoschwili Kazia Mundshadse (Stumm) in der Erzählung „Verfügung“ (1893). Ninoschwili sucht die Namen für seine Helden nach einem einfachen literarischen Stil. Der Held Kazia ist stumm, im übertragenen Sinne dieses Wortes. Er folgt den Anordnungen des Verwalters sogar dann ohne Widerspruch, als er körperlich vollkommen erschöpft ist: er übernimmt die Nachtschicht im Bahnhof; wartet auf das Erscheinen des Zuges (damit das Vieh in der Zeit nicht die Gleise überquert und dadurch eine Zugkatastrophe heraufbeschwört; so einen Fall hat es schon mal gegeben, und wenn ein „hohes Tier“ mit dem Zug reist, ist der Verwalter besonders aufmerksam); der müde Kazia möchte ein Nickerchen machen und legt den Kopf auf die Gleise, damit er den annähernden Zug nicht überhören kann; am nächsten Morgen findet der Bahnhofswächter eine kopflose Leichen an den Bahngleisen.
Dieses Bild mit seiner wortlosen Tragik ist die Metapher für jene ausweglose Situation, in der sich die Welt Egnate Ninoschwilis und die Menschen, die in dieser geschlossenen Welt leben, geraten sind. Der Zug, der auf „glitzernden“, leuchtenden Gleisen gleitet, kann als Metapher für den Fortschritt verstanden werden, der seinen eigenen Weg folgt und den nichts aufhalten kann. Ihm gegenüber hat ein Mann, der dem Schicksal ergeben dient und sich nicht wehrt, keine Chance. Wir könnten annehmen, dass der Zug für Egnate Ninoschwili eine Art Agent der elitären Welt ist, der in marginale Welten eindringt und diese zerstört. Der Schriftsteller will uns weder als Gegner dieses Fortschritts erscheinen noch als Verteidiger des dörflichen Stillstands. Er möchte uns einfach zeigen, dass es zu seiner Zeit neben der schnellen und eiligen Welt auch eine in sich geschlossene, stillstehende und hoffnungslose Welt gibt.
Trägt die moderne Realität, die auf der Idee des Fortschritts basiert, irgendeine Verantwortung gegenüber dieser ausgelieferten Realität? Egnate Ninoschwili als Schriftsteller beschreibt, urteilt und analysiert in seinen Texten nicht die dynamische moderne Welt, die schon sehr viel Kraft außerhalb seiner Heimat besitzt und auch hier an Bedeutung gewinnt; er lernt diese selbst kennen und wird auch selber ein Teil davon. Der Schriftsteller versucht nicht, das bäuerliche Dasein und das einfache Dorfleben zu idealisieren, er sagt nicht, „bei ihnen tobt das Leben“ (das sagte Ilia Tschawtschawadse über sie); seine Poetik ist nicht auf der Gegensätzlichkeit des städtischen Chaos und des ländlichen Ideals gebaut (das machen später die Vertreter der georgischen Moderne). Der Schriftsteller beschreibt diese einfache und hoffnungslose Welt irgendwie ohne Emotionen und macht sie zur Aufgabe seines Schaffens.
Wenn in den 1910er-Jahren die Vertreter der georgischen Moderne erschüttert sind, weil Émil Verhaeren „den Tod der alten Welt beweint“ (T. Tabidse), ist in den Erzählungen Ninoschwilis so ein Klagen und Weinen, das Ende der vertrauten, kleinen Welt ein zentrales Thema und könnte zur Poetik der Empfindung des Weltuntergangs verallgemeinert werden. Unter diesem Aspekt könnten wir Egnate Ninoschwili doch dem Kontext seiner zeitgenössischen westlichen Literatur zuordnen, genauso wie die anderen georgischen Autoren, die sich ein paar Jahre nach dem Entstehen dieser Erzählungen genau denselben Kontext zum Ziel setzen werden.
Bela Tsipuria