Beschreibung
Von meinem Zimmer aus konnte ich in den Vollbeckschen Garten sehen, weil die Rückseite unseres Hauses gegen die Korngasse hinausging. Wenn ich nachmittags meine Schulaufgaben machte, sah ich Herrn Rat Vollbeck mit seiner Frau beim Kaffee sitzen, und ich hörte fast jedes Wort, das sie sprachen. Er fragte immer: 'Wo ist denn nur unser Gretchen so lange?' und sie antwortete alle Tage: 'Ach Gott, das arme Kind studiert wieder einmal.' Ich hatte damals, wie heute, kein Verständnis dafür, daß ein Mensch gerne studiert und sich dadurch vom Kaffeetrinken oder irgend etwas anderem abhalten lassen kann. Dennoch machte es einen großen Eindruck auf mich, obwohl ich dies nie eingestand. Wir sprachen im Gymnasium öfters von Gretchen Vollbeck, und ich verteidigte sie nie, wenn einer erklärte, sie sei eine ekelhafte Gans, die sich bloß gescheit mache.
Autorenportrait
Ludwig Thoma (* 21. Januar 1867 in Oberammergau; gestorben 26. August 1921 in Tegernsee) war ein deutscher Schriftsteller und Rechtsanwalt, der durch seine ebenso realistischen wie satirischen Schilderungen des bayerischen Alltags und der politischen Geschehnisse seiner Zeit populär wurde. Aufgrund der reaktionären und antisemitischen Veröffentlichungen seiner letzten Lebensjahre wird er seit einigen Jahren zunehmend kritisch betrachtet.