Beschreibung
Ueddah, vom Lande Jemen, war berühmt unter den Arabern für seine Schönheit. Er und Om- el-Bonain, Tochter von Abd-el-Asis, dem Sohne Meruans, liebten sich, als sie noch Kinder waren, schon so sehr, daß eins vom andern nicht einen Augenblick getrennt sein mochte. Als Om-el-Bonain die Frau des Ualid-Ben-Abd-el-Malek wurde, verlor Ueddah den Verstand. Nachdem er lange Zeit in einem Zustand von Wirrnis und Weh hingebracht hatte, begab er sich nach Syrien und fing an, täglich um die Wohnstätte Ualids, des Sohnes Maleks, umher zu streifen, ohne zuerst eine Möglichkeit zu finden, sein Begehren zu erreichen. Zuletzt begegnete er einem jungen Mädchen, das er durch beharrliche Fürsorge an sich zu fesseln verstand. Als er meinte, ihr vertrauen zu können, fragte er sie, ob sie Om-el-Bonain kennte. 'Freilich, sie ist ja meine Herrin,' antwortete das junge Mädchen. 'Nun denn,' fuhr Ueddah fort, 'deine Herrin ist meine Base, und willst du ihr Nachricht von mir bringen, so wirst du ihr gewiß Vergnügen bereiten.' 'Ich will sie ihr gern bringen,' erwiderte das junge Mädchen. Und darauf lief sie alsbald zu Om-el-Bonain, um ihr Nachricht von Ueddah zu geben. 'Gib acht, was du sagst!' rief diese, 'wie? Ueddah lebt?' - 'Gewiß,' erwiderte das Mädchen. 'Geh und sag ihm,' fuhr alsbald Om-el-Bonain fort, 'er soll nicht weggehn, bis ihm von mir eine Botschaft gekommen ist.' Dann traf sie ihre Maßnahmen, um Ueddah bei sich einzulassen, und daselbst hielt sie ihn versteckt in einer Truhe. Sie ließ ihn heraus, um mit ihm zusammen zu sein, wenn sie sich in Sicherheit glaubte; und wenn jemand kam, der ihn hätte sehen können, so ließ sie ihn wieder in die Truhe gehen.
Autorenportrait
Franz Blei (* 18. Januar 1871 in Wien, Österreich-Ungarn; gestorben 10. Juli 1942 in Westbury, New York, USA) war ein österreichischer Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber und Literaturkritiker. Sein Hauptwerk ist Das große Bestiarium der deutschen Literatur, darin er ausgewählte zeitgenössische Schriftsteller in Tierallegorien vorstellte. Unter seinen Übersetzungen gelten die von Oscar Wilde Märchen und De Laclos Gefährliche Liebschaften als weiterhin vorzüglich.