Beschreibung
Die Fahrt von der S-Bahnstation Berlin Schönhauser Allee über den ehemaligen Grenzstreifen, der bis 1989 die Stadt teilte, bis zur Station Gesundbrunnen im Wedding dauert heute nur noch knapp anderthalb Minuten. Aber in diesen anderthalb Minuten rauscht der arglose Passagier an einer Menge visuellen Inputs vorbei. BAD, DISTER, AKIM, EHSONE: Namen von unmissverständlicher Intensität. Meterhoch und dichtgedrängt kleben sie an den Wänden der Tunnel, an den Brückenpfeilern und Häuserfassaden, an den Schallschutzmauern und den Betonabdichtungen. Groß, bunt und ins Auge stechend - man kann sich ihrer optischen Präsenz nicht entziehen, selbst, wenn man es wollte. Das Schauen aus dem Fenster rückt ohne Ausweichmöglichkeit Bilder ins Blickfeld des Betrachters, die heutzutage in mindestens ähnlicher Größe wie die alten Meisterstücke im Louvre um die Aufmerksamkeit des Schauenden kämpfen. Urbanes Graffiti zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Oder besser gesagt: in erster Instanz kryptisch anmutende Zeichen, die sich neben- und übereinander lagernd die Wände entlang schlängeln, sodass aus dem vorbei rauschenden Zug eine Art zweite Haut, ein Überzug aus Farben an den Mauern suggeriert wird. [.] Daher gilt es in dieser Arbeit zunächst, das Zeichensystem der urbanen Graffiti-Kultur in seinen einzelnen Ausprägungen vorzustellen und anhand exemplarischer Abbildungen ein Fazit zu treffen, inwiefern Graffiti-Zeichen durch ihre ästhetische Komponente als verbindliche visuelle Ausdrucksform aufgefasst werden. Und zwar aufgefasst als ein neues Zeichensystem, das sich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren in Deutschland etabliert hat und möglicherweise als ein weltweit verständlicher Code anzusehen ist. Zu diesem Zweck werde ich mich nach einem historischen Abriss über die Entwicklung der Graffiti-Kultur auf die Hauptstadt Berlin konzentrieren, da hier nicht nur das politische Zentrum zu finden ist, sondern Berlin daneben als eine der Graffiti-Metropolen Europas angesehen wird. Einleitend wird ein Überblick über den Forschungsstand gegeben, denn die Graffiti-Szene zeichnet sich - dabei beziehe ich mich nur auf Deutschland - nicht durch eine differenzierte Darstellung im zeitgenössischen Diskurs aus, und dies zu ändern ist nicht zuletzt mein Anliegen mit dem vorliegenden Buch. [.]