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Fallobst

Aphorismen, Sprüche und Sentenzen V

Erscheinungsjahr: 2024
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783910246331
Sprache: Deutsch
Umfang: 110
Auflage: 1. Auflage

Beschreibung

Früchte, die nicht gepflückt werden, fallen vom Baum oder Strauch. Als Fallobst leuchten sie im Gras oder auf Sand, faulen, gären und saften. Sie verderben, werden von Vögeln und Wild- schweinen gefressen. Manchem fallen sie in den Schoß; wenn man sie sammelt, können sie zu Saft gepresst, zu Most und Obstlern vergoren und destilliert werden. Der Verfall zeigt eine Noblesse, die seit je die Phantasie an¬ge¬regt und zu bildnerischem, gesanglichem und kulina-rischem Genuss gereizt hat. Sie lässt sich von den Farben, dem Ge¬schmack, den Säften und Konfitüren sowie dem Spiritus ver¬führen. Das Streuobst ist ein Labsal für die Sinne; Augen, Ge¬ruch und Zunge erregen den Geschmack sowie den Griff nach den einladenden Früchten. Im biblischen Mythos kommt der Mensch dem Fall vom Baum zuvor: Eva greift nach der Frucht, bevor sie fällt und gelangt zu einer Erkenntnis, die über den Genuss hinausreicht. Im Moment des Zugriffs treibt ein Verstandesreiz sie an: die Neugier - ein Bedürfnis, das sich nicht nur auf den Geschmack, sondern vor allem auf das Wissen richtet. Und es fragt sich, warum der Schöpfer seinem kreatürlichen Ebenbild das Geheimnis der Kul- tur, die Erkenntnis von Gut und Böse, vorenthalten wollte. In diesem Reiz, dem Momentum der Neugier vor dem Fall, lässt sich, wie im Genuss der gefallenen Frucht, ein Motiv erkennen, das auch den Aphorismus beflügelt: er ist dem Wurm ähnlich, der das Obst zu Fall bringt. Der Stich ins Fruchtfleisch verpasst der Reife jenen Schlag, der sie kippt, im Fall ihre Form und Substanz verwandelt und zur Nature morte macht. Wie das Stillleben mit Fallobst kann der Aphorismus als das An- dere, die literarische Kehrseite eines realen Gegenstandes oder Tatbestandes gelesen und begriffen werden. In ihm wird eine Aussage, ein Ding unter einer veränderten Perspektive wahrge- nommen und nimmt eine neue Gestalt an: Bei Arcimboldo wer- den Blumen, Früchte und Kohlköpfe zur Nature morte eines menschlichen Schädels, im Aphorismus wird aus der Selbster- kenntnis eine Irritation. Erkenne dich selbst - und du hast ein Problem. Oder: Je gerechter sie ihre Gunst verteilte, desto enttäuschter wurde das wahrgenommen. Die Metamorphose des Sinns einer Aussage erweitert die Wahrnehmung und das Begreifen. Am schönsten vielleicht, wenn die gefallenen Äpfel in einem Stillleben von Cézanne leuchten oder im Trou normand, dem Calvados mit Früchten, zwischen den Gängen eines Menüs en- den; wenn ein Aphorismus zur Allegorie im Gedicht oder von einem Gedicht umspielt wird.

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