Beschreibung
Gegen 'Stuttgart 21' wird demonstriert, gesungen, gedichtet, gemalt, prozessiert, informiert, polemisiert. Die Aktivisten sind Architekten, Arbeitslose, Ärzte, Behinderte, Bürger ohne festen Wohnsitz, Gewerkschafter, Hausfrauen, Ingenieure, Juristen, Lehrer, Professoren, Richter, Schüler, Studenten, Theologen, Unternehmer und viele andere. Die Protestbewegung hat zwei neue Zeitungen, einen Fernsehsender, mindestens fünf Fernsehfilme, einige Romane, verschiedene Krimis, etliche Sachbücher und mindestens zwei Theaterstücke hervorgebracht. Sie hat eine Landesregierung gestürzt und eine Volksbefragung erzwungen. Ein 'Kulturdenkmal' der Bewegung, der künstlerisch okkupierte Bauzaun, steht bereits im Haus der Geschichte. Bleibt die Frage nach den Beweggründen. Warum artikuliert sich in Stuttgart ein solch großes Unbehagen, ausgerechnet heute, gegen einen Bahnhofsumbau? Lehnt sich hier ein traditionsverhafteter Mittelstand gegen unbegriffene Veränderungen auf oder zeigt sich in den Protesten ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein? Diesen Fragen geht die Autorin nach. Annette OhmeReinicke unternimmt den Versuch, die Bewegung gegen 'Stuttgart 21' historisch einzuordnen und theoretisch zu reflektieren. In einer kurzen Mentalitätsbeschreibung der regionalen Bevölkerung wird einführend sowohl das Erbe der protestantischen Ethik gezeigt, als auch jenes eigentümlich spekulativlösungsorientierte Denken erläutert, das den Menschen in Württemberg eigen ist. Die Bewegung gegen 'Stuttgart 21' reiht sich ein in eine lange Protestgeschichte gegen technische Großprojekte, die während der sogenannten Reformbewegung vor über einhundert Jahren als konservative Kritik ihren Anfang nahm. Anhand einer Rekonstruktion des Technik- und Fortschrittsverständnisses verschiedener kapitalismuskritischer Akteure jener Zeit - von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bis hin zu frühen Umweltschutzgruppen - lassen sich sowohl deren heutige Position zu 'Stuttgart 21' als auch die Frage danach, was jeweils unter Emanzipation verstanden wird, historisch erschließen und genealogisch darstellen. Es zeigt sich, dass links-rechts Schematisierungen hier nicht weiterhelfen. Weiterhin werden Eigentümlichkeiten und Besonderheiten, Motive und Verlauf der Protestbewegung gegen 'Stuttgart 21' vorgestellt. Ein Vergleich der sozialen Pathologien der wilhelminischen Zeit einerseits und der postfordistischen Konsumgesellschaft andererseits rundet das Buch ab und verweist auf Ursachen des Protests. Das letzte Kapitel des Buches unternimmt den Versuch, die emanzipatorische Dimension der Protestbewegung gegen 'Stuttgart 21' zu erschließen. Dazu werden gängige Zuschreibungen wie 'Protestbewegung', 'Soziale Bewegung', 'Bürgerrechtsbewegung' oder 'Widerstand' auf ihren Erklärungsgehalt abgeklopft.