Beschreibung
„«Das europäischste aller Güter, jene mehr oder minder deutliche Ironie, mit der das Leben des einzelnen disparat dem Dasein jeder Gemeinschaft zu verlaufen beansprucht, in die er verschlagen ist, ist den Deutschen gänzlich abhanden gekommen (Walter Benjamin, Einbahnstraße, 1928).»
Unter dem Gesetz des Wechsels von einer Sprache der Ironie zu einer Sprache des Ernstes ließe sich die Veränderungsstruktur des modernen Diskurses nicht nur in Deutschland nach 1800 in Philosophie, Politik und partiell auch in Literatur und Kunst beschreiben. Unter dem Begriff Ernst ist hier zu verstehen, wie alles Gesagte unter der Bedingung eines radikalisierten Sinn-Anspruchs gesagt wird: Die Aussage steht unter der Forderung nach Absolutem und: Die Aussage steht unter historischem Ausschließlichkeitszwang. Wer so spricht, konfrontiert den Adressaten mit einer existentiellen und einer dezisionistischen Selbstbeschreibung, die nicht mehr überboten werden soll. Der Erfinder dieser Redeweise war, verkürzt gesagt, die deutsche Transzendentalphilosophie in ihrer sozusagen heroischen Phase. Fichtes «Wissenschaftslehre» von 1804 und Hegels «Phänomenologie des Geistes» von 1807 stellen in Stil und in Terminologie ein Projekt in Aussicht, das selbst schon den Begriff eines letzten Ernstes buchstäblich verkündet und in dieser Selbstankündigung keinen Vorläufer in der Geschichte der modernen Philosophie seit Descartes hat. […]
Lassen wir es bei dem Hinweis, dass der Verlust an Ironie und der Gewinn an Ernst zu jenen plötzlich auftauchenden Reaktionen auf prinzipielle Umbrüche gehört, wie sie neuerdings ins Forschungsinteresse rücken. So scheint das absehbare Verschwinden der humanen Skepsis eines Montaigne in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts und das Auftreten eines rigiden Rationalismus und der theologischen Orthodoxie sowohl inhaltlich als auch strukturell in unserem Fall eine vergleichbare Verschiebung gewesen zu sein, die quasi Vorläuferdienste zum Ernstdiskurs leistete. Und unsere Postmoderne wiederum scheint sich eben von diesem rigiden Rationalismus distanzieren zu wollen, nicht von ungefähr dabei einen philosophischen Begriff von Ironie in Anspruch nehmend. Der Name hierfür ist Richard Rorty. Die Frage nach Heidegger als Ernstfall ist also im Kontext der angedeuteten Bewegungsstruktur zu verstehen. Heideggers Philosophie wäre dann die äußerste Zuspitzung eines Seins- und Daseins-Ernstes, der sich bei Fichte und Hegel ankündigte, nunmehr aber verschärft um die Zuspitzung des ontologischen und historischen Arguments. […]“
Autorenportrait
Karl Heinz Bohrer, geb. 1932, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Göttingen. Er wurde im Jahr 1961 promoviert und habilitierte sich 1978 an der Universität Bielefeld. Von 1991 bis 2011 war er zusammen mit Kurt Scheel Herausgeber der Zeitschrift „Merkur“. Im Jahr 1997 wurde er in Bielefeld emeritiert.