Beschreibung
Zu Beginn des 20. Jhs. wurde die Soziologie als Fachwissenschaft, so wie sie heute existiert, weitgehend festgeschrieben. Zwei Gründungsväter standen einander unversöhnlich gegenüber: Rudolf Goldscheid und Max Weber. Sie vertraten zwei völlig unterschiedliche Auffassungen von Soziologie. Weber plädierte für eine Wissenschaft, in der Forschung und Lehre wertfrei erfolgen sollten. Die Vermischung von Sein und Sollen, die Ableitung ethischer Imperative aus wissenschaftlichen Erkenntnissen lehnte er ab. Im Gegensatz zu Weber, dessen verstehende Soziologie eine Soziologie des Seins ist, vertrat Goldscheid eine prospektive Soziologie des Werdens. Für ihn ging "der ganze Streit um die Stellung der Werturteile letzten Endes aus Fragen des akademischen Lehrbetriebes hervor". Forschung hingegen, schöpferische Wissenschaft, sei "ihrem innersten Wesen nach notwendig immer Gestaltung; Gestaltung ohne Wertung aber ist ein Ding der Unmöglichkeit!". Die Soziologie eroberte sich ihren Platz unter den akademischen Wissenschaften zu einem hohen Preis. Sie wurde zu einem Beruf im Sinne von Fachkompetenz, wie Weber es vorausgesehen hatte. Statt auf gesellschaftlichen Fortschritt wurde das Interesse der Soziologen auf innerwissenschaftlichen Fortschritt, auf Erfolg und Anerkennung als spezialisierte Berufsgruppe innerhalb der Akademia gelenkt. Als Folge befindet über die gesellschaftliche Nützlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse heute nicht mehr die Wissenschaft selbst, sondern eine durch wechselnde politische Machtverhältnisse bestimmte staatliche Politik, die immer stärker durch Forderungen der Wirtschaft geprägt ist. Erst in jüngerer Zeit, im Streit zwischen "professioneller" und "öffentlicher Soziologie", zwischen "provinzieller" und "globaler Soziologie" finden die soziologischen Narrative Goldscheids wieder zunehmend Beachtung, Narrative, in denen viele Provokationen eines Ulrich Beck, Bruno Latour, Hans Immler oder Michael Burawoy vorweggenommen wurden. Insofern lohnt es sich, an die Kontroversen jener Zeit wieder anzuknüpfen, die, durch den Nationalsozialismus abrupt unterbrochen, in ihrer reichen Vielfalt und Kreativität kaum je wieder erreicht wurden.