Beschreibung
Der brausende Orgelklang weckte ihn auf. Da fühlte Winnetou unvermittelt, daß Frömmigkeit und Gottesglaube sich mit seinen Räuberidealen nicht deckten. Still trat er aus dem Portal und blieb an der Grundmauer der Kirche lehnen, als er den Schreiber und den Hauptmann, die ihm nachspioniert hatten, langsam die Straße hinunter sich entfernen sah. Winnetou blickte den kleiner und kleiner werdenden Räubern nach, bis sie zu Punkten wurden und endlich nicht mehr zu sehen waren, und trat wieder in die Kirche ein. Die zwei Räuber klopften an die Zimmertür von Falkenauges Mutter, und als niemand antwortete, stiegen sie hinauf in die dürftig möblierte Dachkammer Falkenauges, der noch im Geschäft war. Auf dem Nachtkästchen neben dem Bett stand ein Glas voll klaren Wassers, worin ein Glasauge lag. An der Wand hing eine Tabakspfeife unter dem heiligen Joseph. In einem engen Käfig sprang ein Eichhörnchen aufs Stäbchen und herunter, ruhelos und unaufhörlich. Falkenauge hatte es auf den Schloßberglinden gefangen.
Autorenportrait
Leonhard Frank (* 4. September 1882 in Würzburg; gestorben 18. August 1961 in München) war ein deutscher Schriftsteller. Frank ist einer der bedeutendsten sozialkritischen und pazifistischen Erzähler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er schrieb in einem sparsamen und sachlichen Stil, dem es gleichwohl gelingt, eindringlich die gesellschaftlichen und psychischen Abhängigkeiten seiner Figuren darzustellen. Seine Werke sind geprägt von seiner politischen Vorstellung eines solidarischen und humanen Zusammenlebens der Menschen. Sie können stilistisch zwischen Expressionismus und Sachlichkeit eingeordnet werden. Eine Besonderheit seines Gesamtwerks ist die psychologische Vertiefung seiner Charaktere und der behandelten Themen.